Mittwoch, 25. Juli 2007

Johannes Baptista Friedreich: Geschichte des Räthsels


Friedreich, Johannes Baptista: Geschichte des Räthsels
Dresden, Verlagsbuchhandlung von Rudolf Kunze 1860, 248 Seiten








Kategorie: Buchstaben-, Silben- und Wortpalindrome
Art: Erläuterung mit Beispielen

An diesem Buch sieht man, dass auch die Begriffsverwirrung um Palindrome Tradition hat. Bis in die heutige Zeit ist eine Unsicherheit in der Frage zu beobachten, ob sich beim Rückwärtslesen nur gleiche oder auch andere Bedeutungen ergeben können. Insofern wundert es nicht, dass auch Baptista dafür eine Fallunterscheidung trifft: Palindromfragmente wie Sarg | Gras, die für sich gelesen andere Bedeutungen ergeben, nennt er hier Buchstabenanagramme. Als Palindrome im eigentlichen Sinn definiert er die gleichbleibenden Wörter, wie stets und neben. Ein Auszug von Seite 25 bis 28:

§11. Eine fernere Variation des Worträthsels besteht darin, daß das Wort von vorwärts und rückwärts gelesen werden soll. Je nachdem sich nun dadurch entweder ein anderes Wort ergiebt, oder dasselbe Wort bleibt, haben wir zwei Arten dieser Variation des Worträthsels, nämlich 1. das Anagramm und 2. das Palindrom.

1. Das A n a g r a m m (von ανα, rückwärts, und γραμμα, Buchstabe) giebt zur Aufgabe, daß das Wort von vorwärts und rückwärts gelesen werden soll, wobei sich aber durch das Rückwärtslesen ein anderes Wort ergiebt. Es lassen sich zwei Arten des Anagramm unterscheiden, je nachdem entweder a. das ganze Wort nach seinen einzelnen Buchstaben rückwärts gelesen werden soll, das Buchstabenanagramm, oder b. es soll die einzelnen Silben des Wortes rückwärts gelesen werden, das Silbenanagramm.

a. Das B u c h s t a b e n a n a g r a m m ist jenes, wo die einzelnen Buchstaben des Wortes in der Reihenfolge, wie sie stehen, rückwärts gelesen werden. Beispiele von Th. Körner (Nr. 1), Th. Hell (Nr. 2) I. A. Appel (Nr. 3).
1.
Still empfangen im zarten Keime
Tritt es hervor in des Himmels Räume,
Und es formt sich zur blühenden, schönen Gestalt;
Und die Gottheit segnet's mit heiliger Weihe,
Daß es im Drange der Zeiten gedeihe,
Und es reift mit des Wesens dunkler Gewalt:
Zwar muß es endlich vergehn und erkalten,
Und sinken muß es zur gräulichen Nacht;
Doch strahlt es verjüngt durch des Grabes Spalten
Im neuen Frühling mit seliger Pracht.
Liest du es rückwärts, ein Kind der Erde
Umarmt es die Mutter mit trüber Geberde,
Still widerstrebend dem frühen Strahl;
Und wie des Mädchen rosige Wangen
Ein Schleier umflattert mit zartem Verlangen,
So webt es sich innig um Berg und Thal.
Doch glühender wächst die Flamme der Sonnen,
Und es fliegt zerstreut durch das bläuliche Haus;
So ist das Räthsel zur Klarheit zerronnen,
Sprichst du der Deutung Zauberwort aus.
?

2.
Liebliche Gaben bring' ich dir,
Nahest du dich von vorne mir.
Aber von hinten gelesen,
Bin ich ein wildes Wesen,
Erst getödtet zu gebrauchen,
Wenn die Schüsseln von mir rauchen.
?

3.
Wenn froh die Mutter bricht des Todes Bande,
Der sie mit kaltem Arm fest hielt umfangen;
Wenn sie, befreit von weißem Grabgewande,
Liebend erglüht von sehnendem Verlangen;
Wenn ihr der Bräut'gam naht vom fernen Lande,
Und Rosen küßt auf die erblaßten Wangen;
Dann ruft sie mich hervor, mit dichter Hülle
Deckende zu schirmen ihres Busen Fülle.
Und überall erglänzt das Prachtgeschmeide,
Gleich der Gestirne namenlosen Zahlen,
Auf ihrem bräutlich schön geschmückten Kleide;
Buntglänzend mischen sich des Lichtes Strahlen,
Mit Farben kann der Maler nicht, mit Seide
des Mädchens Hand, des Schmuckes Pracht nicht malen;
So leuchtet nicht in goldnen Fürstensälen
Der Perlen Thau, der Lichtglanz der Juwelen.
Was Leben athmet, freut sich meiner Schöne,
Die Mutter selbst kann nur durch mich beglücken;
Kann liebevoll die lebensfrohen Söhne
Nur an die Brust, die ich umhülle, drücken.
Verlaß ich sie, dann flieh'n der Freude Töne,
Und trauernd weicht frohsinn'ger Lust Entzücken;
Erbleicht sind ihre blüthenvollen Wangen,
In Fesseln liegt das Leben selbst gefangen.
Doch wendet sich die Reihe meiner Zeichen,
So steht vor dir ein düst'res Bild voll Grauen;
Wo ich erscheine, muß die Freude weichen,
Nie wird das Licht, wen ich umfange, schauen;
Den ernsten Tempel will aus mir das Schweigen,
Trophäen sich aus mir der Tod erbauen;
Mich ruft der Schmerz, und muß ich, rufend, hassen,
Doch steigt sein Leid, soll er mich von sich lassen.
Wohl prang' ich oft im reichgeschmückten Kleide,
Gleich nächtlicher Gestirne Silberstrahl,
Wohl glänzt auf mir der stolzen Pracht Geschmeide,
Wohl flammt um mich der Lichtglanz sonder Zahl:
Doch nicht zur Lust, er glänzt umflortem Leide,
Es weckt die Pracht nur tiefen Kummers Qual;
Entbehrt' ich selbst des Schimmers von Juwelen,
Wird mir der Thränen Perlenthau nicht fehlen.
Doch ist Erinn'rung mir nicht ganz verloren,
Wie aus der Mutter Leib ich einst entsproß,
Und, wie aus ihrem Schooß ich dort geboren,
Als sie zu kleiden ward mein schönstes Loos,
So bring' ich jetzt, was sie sich auserkoren,
Zur stillen Ruh' zurück dem Mutterschooß;
Dann wenden sich von Neuem meine Zeichen,
Du siehst sie jung dem stillen Schooß entsteigen.
?

b. Bei dem S i l b e n a n a g r a m m e werden die einzelnen Silben des Wortes rückwärts gelesen.
Ich lege des Abends mich nieder,
Bleib' gewöhnlich des Nachts in der Ruh';
Am Morgen erheb' ich mich wieder,
Den Reisenden dien' ich im Nu:
Ich trage die Farbe des Landes,
Bin meines Königs Knecht,
Und seist du weß' Ranges, weß' Standes,
Du mußt mir geben mein Recht.
Und machst du die Erste zur Zweiten,
Die Zweite zur Ersten mir,
Dann kannst du an mir dir weiden,
Dann sprech' ich im Bilde zur dir;
Bald drücket mich Sonnenschwüle,
Bald glänz' ich in Frühlingspracht,
Bald sind mir des Herbstes Gefühle
Bei meinem Anblick erwacht.
?

2. Unter P a l i n d r o m (von παλιν, rückwärts, und δρομος, der Gang, der Lauf) versteht man ursprünglich diejenige Art von Sätzen oder Versen, welche, man mag sie von der rechten Seite zur linken, oder von der linken zur rechten lesen, immer dieselben bleiben. Die Franzosen nennen sie vers retrogrades oder reciproques. So z.B. folgender Hexameter:
Signa te, signa, temere me tangis et angis.
Roma tibi subito motibus ibit amor.
Man hat auch solche Palindrome, wo selbst die einzelnen Wörter vorwärts und rückwärts gelesen sich gleich bleiben, z.B.
Odo tenet mulum, madidam mappam tenet Anna,
Anna tenet mappam madidam, mulum tenet Odo.
Das Räthsel nun, welches gleichfalls Palindrom genannt wird, bezieht sich auf ein solches Wort, welches vorwärts und rückwärts gelesen immer gleichlautend ist, z.B.
1.
Nimmer verändert es sich, selbst rückwärts bleibt es ein vorwärts;
Was man dem Worte verband, trotzet dem Sturme der Zeit.
?
2.
Drei Zeichen stark wirst du mich finden,
Auch laut' von vorn ich wie von hinten;
Und was ich nenne, kommt wohl nicht
Den Leuten häufig vor's Gesicht.
?
3.
Lies mich von vorne, lies mich zurück, ich mahne dich immer
An die Umgebung, an das, was an der Seite ist.

Oder auch so:

Vorwärts wie rückwärts, beständig verfehlt es die Mitte der Sache,
Nimmer erreichst du das Ziel, bleibst du dem Worte vereint.
?


Das hier vorgestellte Exemplar befindet sich im digitalisierten Bestand der Google-Buchsuche und ist dort vollständig online zugänglich.