Mittwoch, 30. Mai 2007

Des Widerspenstigen Zählung II


"Da habe ich dir eine Schüssel Linsen in die Asche geschüttet" heißt es im Märchen von Aschenputtel.


Gut möglich, dass unsere Muttersprache mit den Palindromen etwas Ähnliches im Sinn hatte ;) Nur um einiges perfider: Nicht aus der Asche sucht man etwas heraus, sondern in einem Meer von Linsen diejenigen, die sich spiegelbildlich entsprechen. Das geht eigentlich nur durch langwierige Inaugenscheinnahme jeder einzelnen. Gerade deshalb wäre ein schnelles Extraktionsverfahren wie im Märchen hilfreich: "Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen." Was aber bedingt hier qualitative Abstufungen zwischen "perfekt" und "geht überhaupt nicht" - die Widerspenstigkeit oder Palindromität der Worte, ihr Vermögen also, umkehrbare Verbindungen einzugehen bzw. auszubilden?

Die erste Überlegung vor einem Monat zielte dabei auf die Buchstabenhäufigkeit ab. Mit diesem Denkansatz ließen sich die dreibuchstabigen Wörter schon recht gut einschätzen. Dabei blieb allerdings eines außer Acht: Buchstaben existieren ja nicht als isolierte Einzelindividuen, sondern stets in Verbindung mit anderen. Und in diesem "Paarungsverhalten" sind sie ähnlich wählerisch wie Menschen: nicht jeder kann mit jedem ;) Berücksichtigt man die relativen Bigrammhäufigkeiten, in denen solche Vorlieben und Abneigungen Niederschlag finden, ergibt sich ein genaueres Bild der möglichen Wahlverwandschaften. Dank einer guten Freundin lässt sich das auch in einer Formel ausdrücken:



An einem Beispiel verdeutlicht:

Das Wort "Beil" enthält 4 Buchstaben, die im Deutschen mit einer charakteristischen Häufigkeit auftreten:
1.) B: 1,9%, E: 17,4%, I: 7,6%, L: 3,4%. Im Mittel: 7,6%.

Darüber hinaus besteht es aus 3 Bigrammen, die wir in dem Fall rückwärts betrachten: LI -> IE -> EB. Auch diese treten im Deutschen mit einer bestimmten Häufigkeit auf:
2.) LI: 17,3%, IE: 21,1%, EB: 2,6%. Im Mittel: 13,7%.

Partiell auftretende Unschärfen in beiden Berechnungen erfordern die Bildung des Gesamtdurchschnitts:
3.) Diesen mittleren Wert definiere ich als Palindromität P, für "Beil" ergibt sich P=10,7.

Diesen Algorithmus habe ich zu Versuchszwecken auf alle vierbuchstabigen Wörter angewendet. Mehrere hundert konnten so relativ schnell klassifiziert werden ("wenn du die Linsen in zwei Stunden wieder ausgelesen hast, so sollst du mitgehen"). Die Höchstwertung erhielt dabei übrigens "Rebe" mit 18,7. Ab den erkennbar Schwierigen habe ich dann die Umkehrbarkeit untersucht. Das ist "Grundlagenforschung" mit Mut zur Lücke und eine Einladung zur Widerlegung* ;) Von den ca. 750 Wörtern erwiesen sich am Ende nur 4% als nicht palindrom:
6,2 Myom
5,8 Stau
5,5 wild
5,3 Zimt
4,4 Slum
4,4 Wind
4,1 Pfad
3,9 Kurs
3,9 zwar
3,8 Wink
3,7 Zorn
3,5 wund
3,4 Blut
3,4 Glut
3,2 Gong
3,2 Wurm
3,1 keck
3,1 Spuk
3,1 pfui
3,0 Punk
2,9 Form
2,9 Jeck
2,9 kurz
2,8 chic
2,5 Jury
2,5 Kohl
2,0 Kick
1,9 Fick
1,8 Guck


Die mathematische Rangfolge deckt sich dabei im Wesentlichen mit der gefühlten, empirischen Widerspenstigkeit. Mit einigen Ausreißern wie

12,8 Noxe: Retsina-Noxe: Sex-Onanist, er
10,5 Neon: Mord. Nil. Apnoe. Neon-Palindrom.
9,1 Lyse: Bargeld-Naht. Lyse. Sylt handle. Grab.

die längst nicht so pflegeleicht sind, wie hier ermittelt.

Die Grenzen dieser Methode liegen in der Anschauung einer sprachlichen Normalverteilung, die für Palindrome zwar aussagekräftig aber nicht bindend ist. Sie finden manchmal eben auch Wege, wo keine sein dürften und versagen sich anderen, die passabel scheinen. Das Eigensinnige ist das Unkalkulierbare dabei. Man darf also auf eine Fortsetzung dieser Geschichte gespannt sein ...

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* Schreiben Sie mir ruhig, wenn Ihnen ein hier nicht erwähntes Wort unumkehrbar scheint!

Freitag, 25. Mai 2007

A. Schmidt und A. Nicolai: Wer errät's?


Schmidt, August und Nicolai, Anna: Wer errät's?
150 neue Original-Rätsel verschiedener Gattung:
Buchstaben-, Silben- und Zahlenrätsel, Homonyme, Logogriphe, Palindrome, Charaden, Rösselsprünge

o.J. [ca. 1905], 240 Seiten*





Kategorie: Buchstabenpalindrome
Art: Rätseldichtung, Zahlenrätsel

In diesem Buch findet man ein seltenes palindromes Kleinod - ein magisches Quadrat. Das jedenfalls ergibt sich in der Auflösung eines Zahlenrätsels (siehe Nr. 86.):


Es handelt sich hierbei um einen Buchstabenwürfel, der mit Ausnahme der Diagonalen in allen Reihen vorwärts und rückwärts lesbar ist. Solche magischen Quadrate sind aus dem Griechischen und Lateinischen überliefert, im Deutschen aber absolute Mangelware.

Die Palindrom-Rätsel als Auszug:

12.
Dem Meere bin ich kaum entstiegen,
Das faßt mich eine wilde Hand,
Mit ihr in Eile zu durchfliegen
Das Feld, den Wald, die Stadt, das Land.
Was ich alsdann im Groll erfasse,
Muß mitleidslos zu Grund gehn,
Doch wo ich sanft mich niederlasse,
Wird neues Leben bald erstehn.

Nun wolle mich von rückwärts lesen,
Dann gleich ich äußerlich der Nacht
Und war ein unglücksel'ges Wesen,
Wenn aus der Heimat ich gebracht.
Doch endlich brechen meine Banden,
Der Freiheitsmorgen tagt auch mir
Und bald werd' ich in allen Landen
Als Mensch betrachtet gleich wie ihr.
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37.
Ein Städtchen bin ich am Meeresstrand,
Und was ich fabriziere
Ist weit und breit gar wohl bekannt
Und mundet dir zum Biere.

Doch dreh' mich um, und was entsteht,
O, schauderhaft zu sagen!
Im Fabrikat spazieren geht,
Wenn du's nicht schon im Magen.
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82.
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Gegeben sind: "a, a, a; b, b; d; e, e, e, e; ch, i, l, l; m; r."
Diese Buchstaben solle in vorstehende Quadrate so eingesetzt werden, daß ergeben;
1, 2, 3, 4 den Namen eines Propheten;
4, 3, 2, 1 einen Ort im Lande Hadeln;
5, 6, 7, 8 den Menschen, der zuerst hat ins Gras beißen müssen;
8, 7, 6, 5 einen Fluß in Pommern;
9, 10, 11, 12 eine alte grieschische Königstochter;
12, 11, 10, 9 einen Stand, der viel gesündigt, aber auch viel genützt hat;
13, 14, 15, 16 ein Tier, dessen Fleisch sehr geschätzt wird;
16, 15, 14, 13 eine Pflanzem deren Frucht des Menschen Herz erfreut.


84.
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Die Buchstaben: "a, a, a, a; d; e; i; i; l; m, m, m; n; o; r; f"
sollen in vorstehende Quadrate so eingesetzt werden, daß ergeben:
1, 2, 3, 4 einen Mädchennamen;
1, 8, 9, 16 eine alte Landschaft südlich von Palästina;
16, 15, 14, 13 eine Getreideart;
13, 12, 5, 4 eine jüdische Frau;
4, 5, 12, 13 einen Fluß in Armenien;
4, 3, 2, 1 eine Ernährerin;
16, 9, 8, 1 etwas sehr Veränderliches;
13, 14, 15, 16 ein Land in Hinter-Asien;
1, 7, 11, 13 eine Landschaft in Peloponnes;
13, 11, 7, 1 einen Küstenfluß in Venetien;
16, 10, 6,4 einen Paß über den Kamm der Himalajakette in Englisch-Indien;
4, 6, 10, 16 ein Land in Hinter-Asien.


86.
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Gegeben die 5 Buchstaben: "a, k, m, o, r."
Dieselben sollen die die vorstehenden Quadrate so eingesetzt werden, daß ergeben:
1, 2, 3, 4 und 1, 5, 9, 13 und 16, 15, 14, 13 und 16, 12, 8, 4 dasselbe Wort, welches ein Gewicht und eine Münze bezeichnet;
4, 3, 2, 1 und 4, 8, 12, 16 und 13, 14, 15, 16 und 13, 9, 5, 1 dasselbe Wort, welche eine geringfügige Sache bezeichnet;
5, 6, 7, 8 und 2, 6, 10, 14 und 12, 11, 10, 9 und 15, 11, 7, 3 einen heidnischen Gott;
9, 10, 11, 12 und 3, 7, 11, 15 und 14, 10, 6, 2 und 8, 7, 6, 5 eine berühmte Stadt.


88.
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Gegeben: a, a, a, a; b; g; i; o; p; r, r, r, r; s; t; u."
Dieselben sollen in vorstehende Quadrate so eingesetzt werden, daß ergeben:
1, 2, 3, 4 eine Zierde des Mannes;
4, 3, 2, 1 eine Gangart;
1, 5, 9, 13 ein wirtschaftliches Uebel;
13, 9, 5, 1 eine nicht sehr anmutende Eigenschaft;
13, 14, 15, 16 eine Pflanzengattung;
16, 15, 14, 13 ein sehr stilles und von wenigen ersehntes Häuschen;
4, 8, 12, 16 einen unbeholfenen Menschen;
16, 12, 8, 4 eine Krankheit bei Pferden;
13, 10, 7, 4 etwas, mit dem der Turner gern Luxus treibt;
4, 7, 10, 13 einen Gegensatz der Wahrheit;
1, 6, 11, 16 einen weisen Menschen des Altertums;
16, 11, 6, 1 einen persischen Liederdichter des 16. Jahrhunderts.


89.
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Gegeben: a, a; d; e, e; i, i, i; l; n, n; o; s, s, s, v.
Diese Buchstaben sollen in vorstehende Quadrate so eingesetzt werden, daß ergeben:
1, 2, 3, 4, ein französisches Wort, welches auf Wechseln zuweilen steht;
4, 5, 12, 13 einen italienischen Schlachtenort;
13, 14, 15, 16 einen spanischen Frauennamen;
16, 9, 8, 1 einen männlichen Namen;
1, 8, 9, 16 ein Gewürz;
16, 15, 14, 13 eine Schillersche Gestalt;
13, 12, 5, 4 eine Sache, die gegen das erste mosaische Gesetz verstößt;
4, 3, 2, 1 ein aus dem Erdinnern stammendes Produkt;
1, 7, 11, 13 ein Küstenflüßchen in Italien;
13, 11, 7, 1 einen Ort im russischen Gouvernement Pskow,
16, 10, 6, 4 ein Fabrikat, das schon manchen verdienterweise erhöht hat;
4, 6, 10, 16 eine Aufforderung, einen der Sinne in Thätigkeit zu setzen.

(Autor dieser Palindromrätsel: August Schmidt)


* als beigebundene Schrift in Aalborg, Edgar: Wie amüsieren wir unsere Gesellschaft? Neuer maitre de plaisir für Freunde geselliger Vergnügungen enthaltend: Zauber - Soiree in Vortragsform sowie: Die Kunst des Bauchredens und Orientalische Zauberbühne, Original-Rätsel, Rösselsprünge und Scherzfragen, Gesellschaftsspiele.... 3 Bände in 1. Stuttgart, Levy & Müller, o.J. (um 1900)

Juni 2012: Herzlichen Dank an Otto Janko für diesen Hinweis!

Dienstag, 8. Mai 2007

Palindrome goes chamber music: metallatem

Uraufführung von Andreas Kerstings "metallatem" beim 4. Forumkonzert des RIAS Kammerchores am 5. Mai 2007 in der Treppenhalle des Landgerichts Berlin:

Das Foto der Treppenhalle kann gut als Sinnbild dienen, womit man es bei Palindromen zu tun hat. Es sind Wortgebäude, die ausschließlich von ihrer symmetrischen Innenarchitektur geformt und getragen werden. Filigrane Raumschöpfungen, die man mit eigenen Augen gesehen haben sollte, weil jede Deskription nur ein Abglanz des Wesenhaften wäre. Wie aber vertont man Palindrome? Wie bringt man etwas zu Gehör, das sich nur dem Auge erschließt? Vielleicht so, wie man als Besucher in dieser Treppenhalle steht: man lässt sie auf sich wirken. Impressionen wären ja bereits Klangbilder unserer Empfindsamkeit. Aber Palindrome sind im Gegensatz dazu weit von jeder ästhetischen Formvollendung entfernt. Man findet in ihnen nur Sprachverbiegung: statt Gänsehaut nur Haarsträubendes ;) Im Bemühen, auf Biegen und Brechen einen derartigen sprachlichen Ausnahmezustand zu erschaffen, erhält man halsbrecherische Konstrukte, reine Machbarkeitsstudien, die nichts außer sich selbst tragen: keinen Sinn, keine Botschaften. Der experimentellen Lyrik ist das egal. Jemandem, der nach Inspiration sucht, sicher nicht ...


Man kann es Andreas Kersting also nur danken, dass seine Vertonung alles andere ist, als eine Fortsetzung des Textes mit anderen Mitteln ;) Die Komposition ist eine eigenständige und gelungene Hommage an die Spiegelbildlichkeit auf höherer Ebene:

Sie erhebt die Sprache vom Papier und löst die Worte in ihren überbeanspruchten Bindungen auf. Anders, als es dem Text nach zu befürchten stünde, wird er in dieser sphärischen Entgrenzung tatsächlich zu einem echten Hörerlebnis. Davon aber müsste sich wohl jeder selbst ein Bild machen ;) Ich hoffe sehr, dass sich dazu noch die ein oder andere Gelegenheit bieten wird.

Dem RIAS Chammerchor mit seinen hervorragenden Solisten und Musikern sei für diesen rundum gelungenen Konzertabend gedankt.

Samstag, 5. Mai 2007

Entwicklungshilfe

Die sch-Barriere ist und bleibt ein gefürchteter Angstgegner deutscher Palindrome. Aus Übersee naht unerwartete Unterstützung ...

Dienstag, 1. Mai 2007

Pimp my word: Mai

Schön, dass alles blüht und grünt! Der Mai tut's nicht. Jedenfalls nicht vom Wort her: ein echter Dreibuchstabenhoch ;) Wie wollte der seine Ärmchen zu etwas Unentwirrbarem verknoten?

Die Liebedienerei: Tide, Mnemon, Organelle?
Zier humanem Mai: Uterus-Algebra!
Flöz: Lohn ebener Eis-Algesien = Gneise.
Glasieren: Ebenholz + Ölfarbe + Glasur = Etui.
Ammen am u(h)reizellen-agronomen Meditieren:
Eide & Beileid.

Ob der Mai vielleicht einen großen Bruder hat, der's besser könnte und uns schienbeintretend zum Stolpern brächte? Finden wir es doch heraus! Schließlich ist heute Tag der Arbeit und die Sippe der Dreibuchstabigen umfasst rund 200 Wörter. Da wäre es doch faszinierend, wenn es eine Möglichkeit gäbe, denen gewissermaßen schon an der Nasenspitze ihre Widerspenstigkeit ansehen zu können. Wir bräuchten uns dann nur den harten Kern rauszugreifen ...
Einen Anhaltspunkt bietet der Umstand, dass eigentlich nur 10 Buchstaben für 75% der gesamten Wortschöpfung verantwortlich sind. Für die restlichen bleibt da oft nur ein Seltenheitswert. Man kennt das ja vom Scrabble ;)
Hier die komplette Fahndungsliste. Damit ergibt sich für den Mai -> M: 2,53%, A: 6,61%, I: 7,55% ein Mittelwert von 5,5.
Wenn bekannte Palindrome wie "ein/nie", "Eis/sie" und "die/Eid" auf Werte zwischen 10 und 12 kommen, dann liegt der Mai offenbar im unteren Mittelfeld des Machbaren. Schwierig wird's erst noch: ich (5,1), Axt (4,2), lax (3,3), fix (3,1), Typ (2,3), Zoo (2,1), Jux (1,6).
Die gute Nachricht: am Ende erweist sich auch Jux als Palindrom. Wer's nicht glaubt, muss die ganze Story lesen: Des Widerspenstigen Zählung. Falls Sie also mal bei Günther Jauch sitzen sollten und als Millionen Euro-Frage zu beantworten haben, welche der gezeigten dreibuchstabigen Wörter palindrom sind, können Sie getrost "Alle!" sagen ;)