Freitag, 9. Mai 2008

Schopenhauer und die Palindrome


Seit dem Mittelalter hatten sich Menschen mit dem Aufspüren und Sammeln vereinzelter Palindrome beschäftigt, bis irgendwo im 19. Jahrhundert etwas Entscheidendes geschah: die Geburt des allerersten Palindromsatzes. Ein Übergang vom bloßen Anhäufen hin zur Verwendung als Sprachmaterial, der deshalb bemerkenswert ist, weil sich ein solches Potential aus den wenigen damals bekannten Palindromen nur schwerlich erahnen ließ. Ein Geistesblitz also, der durchaus eines Philosophen würdig war. So verwundert es niemand, dass vielfach Arthur Schopenhauer (1788-1860) als wahrscheinlicher Entdecker von Palindromen gilt, die zu seiner Zeit aufkamen: 'Reliefpfeiler', 'Marktkram' und eben auch 'Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie.'


Im handschriftlichen Nachlass von Arthur Schopenhauer befinden sich u.a. Materialien zu einer Abhandlung "über den argen Unfung, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache getrieben wird", in denen er gegen die damalige Sprachverhunzung zu Felde zieht:
"Die Vollkommenheit einer Sprache besteht darin, daß in ihr jeder Gedanke genau und deutlich, mit allen seinen Nüancen und Modifikationen, sowohl auf grammatischem, als lexikalischem Wege, ausgedrückt werden kann. Diese Vollkommenheit der deutschen Sprache zu rauben ist die Legion unserer hirn- und geschmacklosen Verballhorner derselben bemüht, mittelst Elimination ganzer temporoum (Perfekt, Plusquamperfekt, 2tes Futurum), Wegschneidung der Präfixa, Suffixa, Affixa, Substituierung des kürzeren Wortes für das richtige, sinnlose Zusammenkleisterung zweier Worte, und was dergleichen Streiche mehr sind, welche zwar wenig Verstand, aber viel Dummdreistigkeit erfordern. [...] Ohne eine Ahnung davon, daß das Treffende, Bezeichnende, Genaue des Ausdrucks es ist, worauf es ankommt, sind sie bloß bemüht, Silben und Buchstaben abzuzählen, bereit, sich in allen Fällen mit dem à peu près zu contentiren und dem Leser Einiges zu errathen übrig zu lassen, wenn es nur ein paar Buchstaben weniger giebt. Dahin geht all ihr Denken und Trachten, und jeder Sudler legt, ohne Umstände, seine Tatzen an, die deutsche Sprache zu verbessern. [...] Mir ist, als sähe ich unsere sämmtlichen Schriftsteller, jeden mit einer Scheere in der Hand herlaufen hinter der deutschen Sprache, um ihr irgendwo eine Silbe, wenigstens einen Buchstaben abzuknapsen."1
Es wäre sicher nicht nur eine gute Gelegenheit sondern auch tröstlich gewesen, hätte er an dieser Stelle auf Palindrome verwiesen. Denn diese bilden wenn man so will eine Schutzschicht mit und in der Sprache, die unangreifbar ist. Es ist ihre innere Ordnung, die Palindrome nahezu unzerstörbar macht: Otto, Anna, Egge, Retter. Wer an Spiegelwörtern rührt, kann dabei entweder nur neue erschaffen oder keine. So formte sich ein einzigartiges Sprachasyl, das jahrhundertelang Zeitgeist, Mode oder Rechtschreibreformen widerstand. Eine Form von Überdauerung also, die in diesem Zusammenhang sicher erwähnenswert wäre. Jedoch: Schopenhauer tat es nicht. Nicht hier oder sonst irgendwo. In seinen Werken sucht man Palindrome vergebens. Karl Günter Kröber schreibt in der Einleitung seines Buches "Ein Esel lese nie" dazu:
"'Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie.' Der Satz wird Schopenhauer zugeschrieben; ich habe ihn aber bei Schopenhauer nicht finden können, soviel auch seine fünfbändige Werkausgabe von vorne bis hinten und vom Ende bis zum Anfang durchgesehen habe."2
Warum er nicht fündig werden konnte, erhellt ein Artikel im Schopenhauer-Jahrbuch von 1948:
"Als Kuriosum sei dieser Zusammenstellung noch angefügt, daß Schopenhauer von Zeit zu Zeit immer wieder die Beschäftigung mit Palindromen zugeschrieben wird. Er wird u.a. als Entdecker des Wortes "Reliefpfeiler" bezeichnet, das sich rückwärts ebenso wir vorwärts lesen läßt. Seine Entdeckung soll nach dem Bericht von Fürst und Alexander Moszkowski (Buch der tausend Wunder, 1917 u. ö.) seinerzeit Aufsehen erregt haben. Die Herkunft dieser Behauptung hat sich bis heute nicht feststellen lassen. Julius Sauer, der sie im Frankfurter General-Anzeiger vom 30./31. Mai 1942, S. 7, aufgriff, berief sich (brieflich) auf eine alte Zeitung aus dem Jahre 1882, ohne nähere Angaben machen zu können. Neben dem Reliefpfeiler hat man Schopenhauer allmählich noch weitere Spiegelwörter zugeschrieben: „Er soll als erster die Spiegelung von ,Reliefpfeiler' und ,Marktkram' bemerkt und den schönen Satz ,Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie' gebildet haben." (G. Schäke: Spiegelwörter-Spielereien, Münchener Zeitung, 13. Mai 1933.)"3
Meine eigenen Nachforschungen verebben leider im Jahr 1889. Beinhold Schmidt schrieb damals in "Oesterreichische Lesehalle":
"Die Entdeckung des oft angeführten Wortes R e l i e f p f e i l e r , welches in der That vor- und rückwärts gleichbleibt, wird dem schon erwähnten Schopenhauer zugeschrieben. Ferner soll auf einen Vorturner Redel, der während der Berliner Turnbewegung unter Vater Jahn im ersten Viertel unseres Jahrhunderts gelebt und sehr gegen die damals aufgekommenen Turngürtel geeifert habe, weil sie die freie Bewegung der Bauchmuskeln hinderten, das Palindrom erschienen sein: Ein Ledergurt trug Redel nie. Ohne jedes Ursprungszeugniss läuft ein drittes um: Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie."4
Das deckt sich ziemlich genau mit den Angaben, die man in einem zeitgleich erschienenen Buch findet. Aufzeichnungen vor dieser Zeit sind mir bislang nicht bekannt.

Bleibt fürs Erste festzuhalten: Arthur Schopenhauer scheidet damit als Schöpfer des ersten Palindromsatzes aus. Wenn er es aber nicht war, wer dann? Wer war dieser Vordenker, der den entscheidenden Schritt hin zur Moderne tat?


Wenn Sie sachdienliche Hinweise haben, die zur Ergreifung dieses Wohltäters führen könnten, schreiben Sie mir bitte.
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1 Frauenstädt, Julius (Hrsg.): Aus Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß. Leipzig: F.A. Brockhaus. 1864. S. 60f
2 Kröber, Karl Günter : Ein Esel lese nie. Mathematik der Palindrome. Reinbeck: Rowohlt. 2003. S. 13f
3 Hübscher, Arthur (Hrsg.): XXXII. Schopenhauer-Jahrbuch. Für die Jahre 1945-1948. Bad Oeynhausen, Leipzig, Frankfurt: Lutzeyer. 1948. S. 198
4 Lehner, Hermann: Oesterreichische Lesehalle: Monatsschrift für Unterhaltung und Belehrung. Ausgabe 9. 1889. S. 132