Mittwoch, 4. Juni 2008

Erscheinungsformen von Palindromen in der Literatur


So beschränkt das bei Palindromen zugrunde liegende Spiegelprinzip auch scheint, in ihrem Gebrauch und Variantenreichtum erweisen sie sich als äußerst vielseitig. Breitete man eine literarische Landkarte vor seinem geistigen Auge aus, fände man darauf jedoch nur vereinzelte Punkte, die weit verstreut liegen. Es zeigt sich darin keine einheitliche Entwicklungslinie, eher ein Sprachphänomen, das quer durch die Jahrhunderte und Gattungen geistert. Ein weitläufiges Areal mit spärlichen Fundorten. Dieser Wegweiser kann dabei helfen, das Augenmerk gezielt in verschiedene Richtungen zu lenken:
1. Organisation (Buchstabe, Silbe, Wort, Satz)
2. Aufbau (Einzeiler, Strophe, Fließtext)
3. Verwendung (exemplarisch, systematisch)
Für spannende Überschneidungen sorgen die Palindrome auf ihren verschlungenen Pfaden dann schon von selbst.


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1. Organisation
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  • Buchstabe
Die Betrachtung dieser kleinsten sprachlichen Einheit ist die klassische und meistbedachte Variante bei Palindromen. Ein Eigenbeispiel:
Rüttle wonnige Behänge. Wegnähe, Beginn: O Welttür!
  • Silbe
Palindrome Gebilde, die auf der Silbentrennung fußen:
entreinigt nur ferkelei zum federkasten! oder gardinenweiden
sapphisch, denn tadelvokal! [ ] kahl wo delta den fisch sah - den
weinen die gar der osten kaderfee zum leihkäfer, nur nicht
reihend

(Oskar Pastior, 1990, 1)
  • Wort
Bei Wortpalindromen kommt es zu einer umgekehrten Wiederholung des Gesagten. Ein Beispiel aus der konkreten Poesie:
tau
taub
taube
taub
tau

(Friedrich Achleitner, 1972, 2)
  • Satz
Satzpalindrome bestehen aus einer spiegelbildlichen Anordnung der Zeilenfolge. Als Stilmittel fand dieses Prinzip bereits im Mittelalter Anwendung, z.B. bei Walther von der Vogelweide (L 87,1 - 88,8) oder in der Carmina Burana:
Chume, chume, geselle min,
ih enbite harte din!
ih enbite harte din,
chum, chum, geselle min!

(anonymer Verfasser, Text um 1230, 3)



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2. Aufbau
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  • Einzeiler
Solitäres Satzpalindrom oder Verbund von einzelnen Zeilen, die in und für sich palindrom sind:
not ton
egal plage
ein trostsort nie
eine freude duerfe nie
nie mein amora aroma nie mein

(Ada Fischer, ca. 1970, 4)
  • Strophe
Mehrzeiliger Satzverbund, der in sich palindrom ist:
Segne edle Melodien!
Hole Bier! Fege Wege frei!
Belohne Idole! Melde Enges!

(Herbert Pfeiffer, 1992, 5)
  • Fließtext
Ein fortlaufender Satzverbund, der in sich palindrom ist. Findet man z.B. als Wörterpalindromblock bei Oskar Pastior (Kopfnuß Januskopf) oder längeren Texten (s. Prosa).



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3. Verwendung
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  • exemplarisch
Palindrome als inhaltlicher Bestandteil von Texten. In dieser Funktion erscheinen sie z.B.

- kontemplativ in einem Sinngedicht:
Mensch/ wilt du wissen was dein Leben?
So merck das Wörtlin Leben eben:
Liß es ruck/ so würstu sehen/
Was es/ und wie es thut vergehen.

(Georg Rodolf Weckherlin, 1641, 6)

- verhüllt im Rätsel:
Vorwärts herrsch' ich in des Waldes Hallen;
Jüngling, reitze nicht des Starken Wut!
Hörst du nicht der Göttin Klage schallen
Um des Schönsten rinnend Purpurblut?
Aber rückwärts wink' ich freundlichen allen,
Biete süsse Frucht und Lebensglut.
Cypris selbst gesteht, dass ich die Küsse
Ihrer Rosenlippen noch versüsse.

(Friedrich Kind, 1808, 7, Lösung: Eber - Rebe)

- illustrativ in einer Predigt:
Das Wörtel Satan zurück gelesen heißt natas, und wohl, denn wenn du dem Satan traust, natas, schwimmst du in deinem Untergang. Das Wörtel Atlas zurück gelesen heißt Salta, und füglich, denn steigst du hoch, willst ein hoher Berg Altas sehn, so springst und fallst du in die Tiefe deines Verderbens. Das Wörtel Annam heißt zurück Manna, ist wahr, manche Annam halt einer für sich wie eine Manna, findt aber, daß es bald fault und stinkt. Das Wörtel Löffel zurück gelesen heißt wieder Löffel; heißt wohl Löffel hin, Löffel her, so hast du keinen Löffel mehr.

(Abraham a Sancta Clara, um 1700, 8)

- unterhaltsam in einer Erzählung:
»aber unser Leben«, setzt' er hinzu, »ist, wenn es vorbei ist, ein Nebel gewesen - buchstabieren Sie Leben rückwärts, so kommt Nebel heraus.« Diese Retour-Fracht des Worts setzte den alten Sechser ins größte Erstaunen - »Ich möchte nur wissen, wie man auf so was fallen kann«, sagt' er und brummte. Leben Nebel, Nebel Leben. »Ja lieset man«, setzt' ich dazu, »Nebel rückwärts, so kommt wieder Leben heraus.« - »Ganz natürlich«, sagte Zeitmann.

(Jean Paul, 1799, 9)

- als Wortspiel:

Lieb: Beil
Es ist kein Pfeil/ kein Feur / kein Seegen oder Zangen /
Es ist ein hauend Beil / die Lieb und ihr Verlangen.

(Georg Philipp Harsdörffer, 1643, 10)

  • systematisch
Palindrome als Struktur bildender Bestandteil von Texten:

- Magisches Quadrat

Ein Buchstabengebilde, das auch in der Vertikalen vor- und rückwärts lesbar ist:
M A R K
A M O R
R O M A
K R A M

(August Schmidt, 1871, 11)

- Kaskade

Ist eine systematische und fortschreitende Auflistung möglicher Variationen innerhalb eines feststehenden Themas. So gelingt es z.B. Anton Bruhin in einem Buch(12) tausende von Zwischenstücken in das palindrome Schema "Reih [...] hier" einzufügen:
Reihe hier.
Reihere hier.
Reihe je hier.
[... ca. 500 Seiten ...]
Reihe Bahn eine Amur-Forelle, Teller of Rumaenien habe hier.
Reihe Beule dem Lahmen neu, duennem Halm edel uebe hier.
Reihere Iberer hemdlos Mitte Bett im Sold mehrere Biere hier.

- Lyrik

Die Geschichte palindromer Lyrik erscheint als ein stetes Ringen mit dem für unmöglich Gehaltenen. Stand anfänglich die Eignung als Sprachmaterial noch grundsätzlich in Frage, verlagerte sich der Schwerpunkt der Bemühungen später auf die daraus erwachsenden Gestaltungsmöglichkeiten:
Ab 1957 innovative Wortschöpfung (André Thomkins, Reinhard Koehler: Contratexte, Ada Fischer: Mord in Palindrom)
Ab 1990 komplexe Textformung (Oskar Pastior: Kopfnuß Januskopf, Herbert Pfeiffer: Oh Chello voll Echo, Anton Bruhin: Spiegelgedichte)


- Prosa

Palindrome Prosa ist das Resultat neuerer Bestrebungen, literarische Möglichkeiten auch jenseits des Gedichts zu untersuchen. Solche "Mega-Palindrome", die über eine Seite hinausgehen, findet man z.B. bei Herbert Pfeiffer (Oh Chello voll Echo) und Brigitta Falkner (Tobrevierschreiverbot).


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Literaturverzeichnis:

1 Oskar Pastior: Kopfnuß Januskopf. Gedichte in Palindromen. München: Carl Hanser, 1990. S. 70
2 Eugen Gromringer (Hrsg.): Konkrete Poesie. Stuttgart: Reclam jun., 1972. S. 11
3 Carmina Burana 174 a
4 Ada Fischer: Mord in Palindrom. Bonn: Amöben-Presse, o.J. [ca. 1970], o.S. [Passage aus "reiznunedenunzier"]
5 Herbert Pfeiffer: Oh Chello voll Echo. Palindrom-Gedichte. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel-Verlag, 1992. S. 45
6 Georg Rodolf Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte. Amsterdam: Jansson, 1641
7 Friedrich Kind: Gedichte. Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch, 1808. S. 209
8 Abrahams a St. Clara Sämmtliche Werke. Passau: Friedrich Winkler, 1836. S. 531
9 Jean Paul: Briefe und bevorstehender Lebenslauf. Gera und Leipzig: W. Heinsius, 1799. S. 208
10 Georg Philipp Harsdörffer: Gesprachspiele : So Bey Ehrn- und Tugendliebenden Geselschaften außzu üben. Dritter Theil. Nürnberg: Endter, 1643
11 Edgar Aalborg (Hrsg.): Wie amüsieren wir unsere Gesellschaft. Zweite Abteilung. Wer errät's? Stuttgart: Levy & Müller, o.J. [um 1900]. S. 194
12 Anton Bruhin: Reihe hier. 500 Typogramme und 10000 Palindrome. Basel: Urs Engeler Editor, 2005. S. 3 und 502