Samstag, 22. März 2008

Familienbande: Anagramme


Palindrome sind Anagramme mit Tunnelblick. Sie versagen sich dem umfassenden Wechselspiel der Buchstaben, indem sie stets nur eine einzige Möglichkeit von vielen in Betracht ziehen: die spiegelbildliche. Das ist ausgerechnet Spurtreue da, wo es eigentlich ums Entgleisen geht: um einen Seriencrashtest der Sprache. Jener investigativen Kunst also, möglichst viel aus dem Trümmerfeld pulverisierter Worte herauszulesen. Es ist diese Dechiffrierung im Verharren, an der Palindrome keinen Anteil haben oder nehmen. Unbeirrt ziehen sie ihre Bahn auch da noch weiter, wo das kombinatorische Betätigungsfeld längst ins Unermessliche wächst. Dank ihres vorgezeichneten Weges durchmessen sie diese Galaxien des Möglichen und bilden so etwas wie die "permutative Speerspitze" der Anagramme: überwinden Satzgrenzen und Absätze, gar ganze Kapitel. Für mich als Autor eine asketische Fernreise ins Ungewisse, in die sich manchmal auch Heimweh mischt. Nach irdischer Fülle und Überfluss:

Alles Sprechen und Schreiben heißt würfeln um den Gedanken.
Wie oft fällt nur ein Auge, wenn alle sechs fallen sollten.
Friedrich Hebbel

Buchstäblich hinter die verborgenen Seiten der Worte zu kommen - mit dieser Thematik haben sich seit jeher Anagramme befasst. Dass unser Alphabet dabei ein Universum an Möglichkeiten eröffnet, ist nicht nur eine Redewendung. Bildete man mit dessen 26 Buchstaben alle kombinatorischen Varianten und legte diese zu einer Kette aus Buchstabennudeln aneinander - ergäbe das eine Strecke von mehr als 200 Millionen Lichtjahren!1 Gerade weil damit über kurz oder lang das systematische Durchprobieren zum Scheitern verurteilt ist, bedarf es hierbei in besonderer Weise an Intuition, Augenmaß und Kreativität. So beschreibt Johannes Riemer bereits 1681 ein Verfahren, um Anagramme zu generieren - ein Würfelspiel mit Buchstaben:
Man lasse ein Kästlein / von 24. Fachen machen / in iedes Fach schneide man 5. Würffel / so auf allen Seiten / mit A. beschrieben / die sechs Würffel des andern Faches mit B. und so fort durch das gantze A.B.C. in allen Fachen. Kömmt nun ein Name vor / welcher ANAGRAMMTICE versetzet werden soll / so gehe der Liebhaber über sein ANAGRAMMATICUM, so heisse ich den Buchstaben-Kasten / und setze vorhabenden Namen aus demselben nach Art der Buchdrucker zusammen. Alsdenn so nehme er die Würffel des zusammengesetzten Namens / schütte dieselbe in der Hand über einander / und werffe solche / wie andere Glücks-Würfell / auf den Tisch: Oder setze Sie / wie sie das Glücke gebietet / wiederum unbesehen an einander: und siehe / man wird sich verwundern / was das Glück vor herrlichen INVENTIONES der Ubersetzung mit sich bringet: Und wie geschwinde auf solche Art zehn und zwantzig ANAGRAMMATA in einem Sitzen überaus lustig heraus zu bringen.2
Und doch sollte es noch bis ins 20. Jahrhundert dauern, bis man solcher Collagen in modernen Anagramm-Gedichten angesichtig wurde. Dafür brauchte es keinen Wandel der Technologie, sondern vor allem das Ablegen jener modischen Bescheidenheit, die barocke Autoren noch dem Minimalismus verpflichtete:
Andern Theils ist zu mercken / daß ANAGRAMMATA kurtz seyn / und nicht aus gantzen grossen und weitläuffigen Tituln / von zehn / zwöllf und mehr Zeilen / sondern aus dem blossen Namen gesucht werden müssen.3
Dieser Lust am Ausufern, am restlosen Ausschütten jener so mühsam gefüllten Schatzkammer, begegnet man besonders eindrucksvoll bei Jutta Over. Einer Wortakrobatin, der es in ihrem "Niedersachsenticket" gelingt, Anagramme im Umfang eines Zeitungsartikels miteinander zu kombinieren:

Over, Jutta: Niedersachsenticket, 2007. Quelle: jover.de

Und das bedeutet auf das Eingangszitat zurückbezogen: nicht nur sechs Augen, sondern sechs Dutzend. Ein Defilee des Sagbaren weit über das Vorstellbare hinaus ...

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1 Die unvorstellbare Anzahl ergibt sich aus der Kombinatorik: !26 = ca. 4 x 1026 Möglichkeiten
2,3 Johann Riemers Uber-Reicher Schatz-Meister [...]. Leipzig; Franckfurth: Lunitzius; Weissenfels: Weissenfelsischer Druck, 1681 - zitiert im Reprint der Originalausgabe bei de Gruyter 1979: Johannes Riemer. Werke. Band IV. Seite 156f